Der Verfassungsgerichtshof (VGH) für das Land Baden-Württemberg hat entschieden: Der
Betroffene in einem Bußgeldverfahren wegen Geschwindigkeitsüberschreitung hat einen
Anspruch auf Einsicht in Wartungs- und Reparaturunterlagen des Geschwindigkeitsmessgeräts.
Wird ihm dies verwehrt, liegt ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens vor.

 

 

Das war geschehen
Dem Beschwerdeführer wird vorgeworfen, als Kraftfahrzeugführer die zulässige Höchstgeschwindigkeit
außerhalb geschlossener Ortschaften um 44 km/h überschritten zu haben. Ihm
wurde deshalb zunächst mit Bußgeldbescheid und anschließend durch Urteil des Amtsgerichts
(AG) eine Geldbuße in Höhe von 160 Euro sowie ein einmonatiges Fahrverbot auferlegt. Während
des Bußgeldverfahrens begehrte der Beschwerdeführer die Übermittlung der Ermittlungsakte,
der Rohmessdaten sowie der Lebensakte und der Wartungs-/Reparatur-/Eichnachweise des
Messgeräts. Die Bußgeldbehörde stellte dem Beschwerdeführer die Ermittlungsakte sowie
einige der gewünschten Rohmessdaten zur Verfügung. Eine Einsicht in die Lebensakte und in
die Wartungs-/Reparatur-/Eichnachweise des Messgeräts erhielt er nicht.

 

Amtsgericht und Oberlandesgericht verneinten Anspruch auf Akteneinsicht
Das Amtsgericht lehnte den wiederholten Einsichtsantrag in die o.g. Unterlagen sowie den
Antrag auf Übermittlung der 126 Einzelmessdaten mit der Begründung ab, dass die Beweiserhebung
als zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich anzusehen sei. Zudem bestehe kein
Anspruch auf Beiziehung der Lebensakte sowie auf Bildung eines größeren Aktenbestandes,
zumal eine Lebensakte nach den Angaben der Bußgeldbehörde nicht geführt werde. Das Oberlandesgericht
(OLG) sah in der amtsgerichtlichen Entscheidung keine Rechtsfehler. Im Hinblick
auf die Ablehnung der Beiziehung von Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichnachweisen des
Messgeräts habe der Messbeamte als Zeuge angegeben, dass keine eichrelevanten Störungen
oder Defekte aufgetreten seien, sodass das AG im Rahmen seiner Aufklärungspflicht nicht verpflichtet
gewesen sei, beim Verwender des Messgeräts Nachweise über erfolgte Wartungen,
Reparaturen und sonstige Eingriffe anzufordern, zumal der Messbeamte solche auch verneint
habe.

 

Verfassungsgerichtshof „kassierte“ Urteile
Der VGH: Die Verfassungsbeschwerde ist, soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung des
Grundsatzes des fairen Verfahrens aufgrund der unterbliebenen Einsichtsgewährung in die
Wartungs- und Reparaturunterlagen rügt, zulässig und begründet. Das Urteil des AG sowie der
Beschluss des OLG verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht auf ein faires Verfahren,
indem darin jeweils unter Annahme eines Gleichlaufs der gerichtlichen Aufklärungspflicht mit
dem Einsichtsrecht des Betroffenen dessen Zugang zu den Wartungs-/Reparaturunterlagen
des Messgeräts abgelehnt wurde.

Recht auf faires Verfahren
Wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) festgestellt hat, folgt aus dem Recht auf ein faires
Verfahren grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen,
aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen. Hierbei handelt es sich nicht
um eine Frage der gerichtlichen Aufklärungspflicht, sondern der Verteidigungsmöglichkeiten
des Betroffenen. Im Rechtsstaat muss dem Betroffenen die Möglichkeit gegeben werden, zur
Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen.
Dabei wendet sich das Gebot zur fairen Verfahrensgestaltung nicht nur an die Gerichte,
sondern ist auch von allen anderen staatlichen Organen zu beachten, die auf den Gang eines Recht auf faires Verfahren
Wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) festgestellt hat, folgt aus dem Recht auf ein faires
Verfahren grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen,
aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen. Hierbei handelt es sich nicht
um eine Frage der gerichtlichen Aufklärungspflicht, sondern der Verteidigungsmöglichkeiten
des Betroffenen. Im Rechtsstaat muss dem Betroffenen die Möglichkeit gegeben werden, zur
Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen.
Dabei wendet sich das Gebot zur fairen Verfahrensgestaltung nicht nur an die Gerichte,
sondern ist auch von allen anderen staatlichen Organen zu beachten, die auf den Gang eines

Strafverfahrens Einfluss nehmen, demgemäß auch von der Exekutive, soweit sie sich rechtlich
gehalten sieht, bestimmte Beweismittel nicht freizugeben. Ein rechtsstaatliches und faires Verfahren
fordert daher „Waffengleichheit“ zwischen den Verfolgungsbehörden einerseits und dem
Beschuldigten andererseits. Der Beschuldigte hat deshalb ein Recht auf möglichst frühzeitigen
und umfassenden Zugang zu Beweismitteln und Ermittlungsvorgängen und auf die Vermittlung
der erforderlichen materiell- und prozessrechtlichen Informationen, ohne die er seine Rechte
nicht wirkungsvoll wahrnehmen könnte.

„Waffengleichheit“ für Beschuldigte gegenüber den Verfolgungsbehörden
Der Beschuldigte eines Strafverfahrens bzw. Betroffene eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens
hat neben der Möglichkeit, prozessual im Wege von Beweisanträgen oder Beweisermittlungsanträgen
auf den Gang der Hauptverhandlung Einfluss zu nehmen, grundsätzlich auch das
Recht, Kenntnis von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden
sind, aber nicht zur Akte genommen wurden. Dadurch werden seine Verteidigungsmöglichkeiten
erweitert, weil er selbst nach Entlastungsmomenten suchen kann, die zwar fernliegen
mögen, aber nicht schlechthin auszuschließen sind. Die möglicherweise außerhalb der Verfahrensakte
gefundenen entlastenden Informationen können von der Verteidigung zur fundierten
Begründung eines Antrags auf Beiziehung vor Gericht dargelegt werden. Der Betroffene kann
so das Gericht, das von sich aus keine sachlich gebotene Veranlassung zur Beiziehung dieser
Informationen sieht, auf dem Weg des Beweisantrags oder Beweisermittlungsantrags zur
Heranziehung veranlassen.

 

QUELLE: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.1.2023, 1 VB 38/18, PM vom 16.1.2023

 

Kategorie(n)

Verkehrsrecht

 

Schlagwörter

Messgeräts